Zurückschauen
Ich bin gerade dabei, die nächste Karton-Umzugskiste auszuräumen. Es sind diesmal einige schwere, bunte Ordner drin. Auf manchen stehen Bezeichnungen wie “Musical Class”, “Vocal Group” oder “Acting”. Dazwischen finden sich noch Klebestreifen, Bleistifte, eine Klammer-Maschine und einiges anderes Kleinzeug, das anscheinend noch nachträglich schnell eingepackt wurde. Alles wird von mir herausgenommen, angeschaut und wieder richtig an seinem neuen Platz eingeordnet. Wir sind mit Gravity9 nun tatsächlich umgezogen. Nach drei Jahren in unserem geliebten Raum in der Badenerstrasse sind wir nun in der Baslerstrasse angekommen. Wieder in einem unglaublich tollen und besonderen Raum, in dem ich mich jetzt schon so wohl und vertraut fühle, als wären wir schon Jahre hier.
Mit jeder Kiste, mit jedem Ding und mit jedem Gegenstand lebt eine Erinnerung, ein Bild, eine Geschichte wieder auf. Mit jedem Mal Umziehen schaue ich auch zurück. Das “Zurückschauen” ist immer eine Reise durch vergangenen Lebensabschnitte. Ich werde mir der Zeit bewusst, und ich werde mir der Momente bewusst, die nicht mehr kommen werden. Ich werde mir ausserdem meines Alters bewusst – ohne Wertung natürlich, aber je mehr Erinnerungen es gibt, desto mehr vergangenes Leben gibt es. Ich bin gerade im Frühling dieses Jahres auch privat in ein neues Zuhause gezogen … Ich halte inne, und ich frage mich, wie oft ich in meinem Leben eigentlich schon umgezogen bin.
Ich möchte mich erinnern und gehe im Kopf meine Wohnadressen durch, von meinem Auszug aus meinem Zuhause in Graz, über die Zeit meiner Ausbildung und Arbeit bis heute, meinem Leben in der Schweiz: Also, Karmarschgasse, Rahlgasse, Kirchberggasse, Köstlergasse, 75th street, Upper Westside Manhattan, Sandgasse, Liniengasse, Stumpergasse, Zahnradbahnstrasse, Baumgartenstrasse, Schiffbaustrasse, Krönleinstrasse, Dorfstrasse. Dazwischen noch aus beruflichen Gründen unendlich viele Kleinwohnungen, Theaterwohnungen, Appartements und Hotelzimmer und in einer Zeit einer persönlichen Krise eine Übergangswohnung in der Döblinger Hauptstrasse und in der Quergasse. 15 mal also. Das finde sogar ich viel.
Ja, es sind viele Kisten, Kartons, Taschen und Koffer, die ich in meinem Leben ein- und ausgepackt habe, viele Dinge, die ich in der Hand gehalten und neu eingeordnet habe und viele Erinnerungen, auf die ich immer wieder zurückgeschaut habe. Aber noch zahlreicher ist all das, was ich nicht mitnehmen konnten, was ich in der Hand hielt und loslassen musste. Ich schaue immer zurück, wenn ich kann und schätze jeden Augenblick, der mich aus meiner Erinnerung besucht, und ich höre gut zu. Denn das Zurückschauen erzählt mir die Geschichte von meinem Leben.