Vom Proben und Gärtnern
Es ist wieder soweit: Endproben für unser neues Stück. Ja, ich bin seit knapp 25 Jahren in diesem Beruf und habe unzählige Bühnen-Auftritte hinter mir. Doch es scheint da irgendwo ein Gesetz zu geben, dass jede Art von Evolution bei Theater-Endproben ausser Kraft setzt. Es wird nicht einfacher, es wird nicht stressfreier, es wird nicht routinierter. Und ganz ehrlich gesagt, ärgert mich dieser Umstand auch ziemlich. “Da gewöhnt man sich dann dran”, habe ich seit meiner Ausbildung gehört. – Nichts, rein gar nichts hat sich geändert. Bevor ich nun emotional werde, versuch ich’s analytisch: Wie ist dieses Gefühl, so zehn Tage vor der Premiere? Es fühlt sich an, wie um Mitternacht am HB der letzten S-Bahn nach Kloten nachzulaufen, wie ständig auf Eierschalen zu gehen, wie das Haus zu verlassen mit der Gewissheit, irgendetwas vergessen zu haben, wie auf Urlaub zu fahren mit der Ungewissheit, ob das Bügeleisen auch wirklich ausgesteckt ist oder wie eine vollbesetzte Passagier-Maschine mit verbundenen Augen landen zu müssen. Das letzte Szenario erscheint mir dem Gefühl am nächsten, wobei mir da gänzlich die Erfahrungswerte fehlen … Ich bin jedenfalls in einem intensiven Chaos-Zustand von Lernen, Umsetzen, Wiederholen, Kreativsein, Bestätigen und Hinterfragen, Scheitern und Erfolgreich sein. Das Wachsamkeit-Level meines Nervensystems ist auf 100 und Entspannung ist nur durch völlige Erschöpfung möglich.
Klingt schlimm? Ist es auch! Aber keine Angst, ich habe mich an das Gefühl zwar nicht gewöhnt, weiss aber mittlerweile wohl damit umzugehen. Wie? Durch Verständnis. ich weiss heute, warum das Gefühl da ist. Aus neurologischer Sicht ist das alles notwendig, um am Ende ein optimales Ergebnis zu erzielen, in meinem Fall, erfolgreich eine mir bestmögliche Performance hinzulegen. Tatsächlich werden mein #Gehirn, #Muskeln, #Stimmbänder etc. in diesen Augenblicken umgebaut. Stichwort #Neuroplastizität. Es ist einfach ein Teil des Prozesses, in dem mein Körper etwas Neues lernt und sich dementsprechend verändert. Jeder Schritt dieses Prozesses ist dabei essentiell notwendig. Die Zeit kann verkürzt werden, der Prozess kann “verangenehmt” werden, aber nie kann ein Schritt übersprungen werden.
Da kommt mir mein Garten in den Sinn. Ich gehe jeden Morgen hin, giesse, schneide, pflege – und alles wächst … jeden Tag ein bisschen. Muss auch ganz schön anstrengend sein für so einen Garten! Kann ich erwarten, dass gleich eine Tomate da ist? Nein, die kleine Pflanze muss zuerst da sein und dann wachsen. Und so ergibt sich eine erstaunliche Parallele: Dieses unangenehme Proben-Gefühl ist ein Wachstumsprozess und ich bin der Gärtner.