“Fight or Flight?” – Der Schritt ins Rampenlicht
Kalter Schweiss auf der Stirn, “wie war der erste Satz nochmal?”, die Knie sind weich, “ich hätt doch noch auf’s Klo gehen müssen”, der Atem ist flach, “wie soll ich mit dem Kloss im Hals singen?”, das Herz rast, “gleich bin ich dran”, eine seltsame Mischung aus Angst und Spannung, Unsicherheit und Vorfreude, Aufmerksamkeit und Chaos, “gleich trete ich auf die Bühne”. Lichter an. Vorhang auf, ich sehe das Publikum, “es geht los ...”
Ob bei einem Vortrag, vor einer Prüfung, während dem Vorstellungsgespräch, in einer Vorstellungsrunde mit fremden Menschen oder eben vor einem Auftritt auf der Bühne: Diesen inneren Zustand kennen wir alle – und während ich im Alltag davon überrumpelt werde, kenne ich es vom Theater nur allzu gut: das Lampenfieber
Wenn ich mir das Wort als solches anschaue, finde ich es im ersten Moment sehr passend. Im Theater gibt es Scheinwerfer, also “Lampen”, und das “-fieber” verbinde ich mit Unwohlsein und Schweissausbrüchen. So gesehen scheint der Fall ganz klar: Ein negatives Gefühl, welches mit Stress und einem “Fight or Flight”-Zustand verbunden ist. Was aber im nächsten Moment passiert, wenn ich mich für den Schritt auf die Bühne entscheide und ins Scheinwerferlicht trete, ist jedes Mal auf’s Neue eine Überraschung.
Wie kommt es zu dieser plötzlichen Wendung?
Recherchiert man im Internet, findet man Aussagen darüber, dass es ein positives und ein negatives Lampenfieber gibt. Das eine wird dann auch “Auftrittsangst” oder “Vorstartangst” genannt und als leistungsmindernd bezeichnet, während das andere als Eustress gilt und leistungssteigernd wirkt. Wenn ich aber mein persönliches Gefühl vor und während einem Auftritt betrachte, wirkt es für mich wie ein und dasselbe Gefühl. Ein Lampenfieber in zwei verschiedenen Ausführungen.
Um das zu veranschaulichen, möchte ich kurz ein Diagramm vorstellen, welches Hannes bei Emotion Balance nutzt:
Dieses wurde von James Russell entwickelt und teilt unsere Emotionen so auf, dass sie in einem zweidimensionalen Diagramm aufgezeichnet werden können. Dabei werden sie von deaktivierend bis aktivierend und von unangenehm bis angenehm eingeordnet. Betrachte ich den Zustand vor einem Auftritt genau, dann befinde ich mich definitiv oben links: sehr aktiviert und gleichzeitig unangenehm. Sobald ich aber tatsächlich auftrete und in Aktion komme, shiftet mein Gefühl, und es wechselt zu angenehm.
Was ist also in der Zwischenzeit passiert?
Für mich liegt der Schlüssel in einer Millisekunde, genau in dem Moment, wo ich auftrete: Wenn ich hinter der Bühne verweile, bin ich in einer wartenden und ausharrenden Position, während mein Körper gleichzeitig seine Ressourcen mobilisiert und meinen Organismus für plötzliche Höchstleistungen vorbereitet. Mein Körper befindet sich also in einem vergleichbaren Zustand wie in der Steinzeit, vor einem Säbelzahn-Tiger stehend. Tausend passende (und natürlich auch sehr unpassende) Gedanken rauschen durch den Kopf. Das Gehirn geht alle Eventualitäten durch. Alles, was schieflaufen könnte, wird aufgezeigt, alle möglichen Szenarien werden lebhaft durchgespielt.
Doch dann kommt der Schlüsselmoment: Die Millisekunde, in der wir eine Entscheidung treffen: Fight! In diesem Moment dreht sich unsere ganze Wahrnehmung, und wie bei einem Sprung ins kalte Wasser, werden wir plötzlich wach, energetisch, aktiv und fokussiert. Das Gefühl hat auf einmal einen Sinn und wird zu unserem Antrieb. Angst wird zu Spannung, Unsicherheit zu Freude, Chaos zu Aufmerksamkeit, unangenehm wird angenehm.
Wir haben im “Circumplex Model of Emotion” von links nach rechts gewechselt. Alles fokussiert sich auf diese eine Aufgabe, und wir sind bereit, den Säbelzahn-Tiger oder in unserem Fall eben die Vorstellung singend, spielend und tanzend zu bestreiten.
Warum ich das in diesem Blog schreibe?
Auf diese Art von Situationen werden wir immer wieder stossen, und ob vor einem Auftritt oder im Alltag stehen wir so manchem Säbelzahn-Tiger gegenüber. Wo früher die Entscheidung “Fight oder Flight” stand, ist sie heute wahrscheinlich ein Multiple Choice-Fragebogen – doch der Schlüssel bleibt der gleiche: Die Millisekunde, in der die Entscheidung fällt. Bis das passiert, heisst es, dieses Gefühl zu ertragen und zu wissen: Es zeigt Dir nur, dass Du noch am Leben bist, dass Dir das, was Du gleich machen wirst, wichtig ist und dass Du damit etwas bewirken kannst.
Und dann kommt die Entscheidung ...